Amerigo Tot wurde vor hundert Jahren geboren und starb vor fünfundzwanzig Jahren. Nach Ungarn kehrte er erst im Alter wieder, war er hier doch "der" westliche Künstler, aber auch ein Aushängeschild der Kulturpolitik der Kádárzeit, mit der man sich rühmen konnte ? spazierte doch die halbe Welt an seinem für den Bahnhof in Rom gestaltetem Wandfries vorbei. Die Erinnerung an eine große Legende, einen einst weltbekannten Bildhauer wird jetzt im Ludwig Museum erneuert, - von einer Generation, die zwar noch wusste, wer Amerigo Tot war, aber nicht weiß, was sie eigentlich mit ihm anfangen soll.
Die Weltsensation, wenn es denn eine war, verlief jedoch alsbald im Sande. Heute kennt man nur noch seinen Namen, die Arbeiten sind aus dem Gedächtnis Europas verschwunden. Als der Kurator der Ausstellung, József Mélyi, Material suchte, fand er im Keller des Familiensitzes seit 25 Jahren verschlossene Kartons mit nahezu 2000 Fotos - auf deren Rückseite lakonische Kommentare von Tot -, 600 Zeichnungen, Skizzen. Gipsabdrücke, die Tot von den Händen des Papstes angefertigt hatte zu den liturgischen Gegenständen des Heiligen Jahres oder zum Relief der ungarischen Kapelle im Vatikan.
All das stellte er nach gründlicher Auswahl in den Räumen des Ludwig Museums aus. Bei der Ausstellung geht es nicht um das Lebenswerk eines Künstlers ? obwohl hier auch Plastiken zu sehen sind, zusammengedrängt in der Mitte der beiden Räume, als wenn wir uns im Lager einer Bildergalerie von 1975 befinden würden- , sondern um kulturpolitische Ausflüchte, über deren Wurzeln, Auswirkungen, Nachleben ? oder eher Nachstille. Es geht darum, warum der Künstler für Ungarn das wurde, was er war, und warum er es jetzt nicht mehr ist. Warum wuchsen die heute Vierzigjährigen mit seinem Namen auf und die zehn Jahre später Geborenen nicht mehr?
Die Werke selbst begründen nicht oder nicht restlos den damaligen Sonderstatus. Als gegen Ende der Sechziger Jahre der Zauber von Tot auch bei uns Einzug hielt, beschäftigten den Künstler schon ganz andere Fragen. Aber zur Repräsentation der Macht passte seine klassische und moderne Traditionen verarbeitende Welt, nicht die zeitgenössische formen- und ruhestörende Avantgarde.
Als er in Ungarn zwei Jahrzehnte lang auf das Podest gehoben wurde, verlief seine Laufbahn bereits abwärts. Heute kann man nur nach ernsthaften Anstrengungen auf seine Werke treffen. Der aufregendste Teil der Ausstellung ist vielleicht das Blogg-Tagebuch von Péter Nemes, der sich in diesem Sommer anderthalb Monate in Italien aufgehalten hatte, um auf öffentlichen Plätzen die zerbröckelnden Skulpturen von Tot und in Räumen vereinsamten Plastiken aufzusuchen. Das Vergessen, Nichtbeachten, Zerstören der Werke hat nichts mit der Qualität der Werke zu tun, zeigt eher einen Spielraum und die Einbettung in ein kulturelles Medium. Zeit und Werk werden gegenüber gestellt, aber nur deshalb, um die "große Zeit" vor dem Vergessen auch in den Lauf der Zeit einzuordnen. Die einst für ewig erklärten Werke werden so relativiert.
Welche andere Aufgabe hätte die Kunstgeschichte, als diese schmerzhafte Zerreißprobe durchzuführen? Was wäre besser zum 100. Jahrestag der Geburt von Amerigo Tot, als ihn davon zu befreien, womit das vergängliche Medium der Zeit ihn beladen hat?
Das Besondere in der Konzeption von Mélyi ist, dass er den vergessenen Künstler nicht vom Thron stößt, sondern unter den Ruinen das herausholt, was bleibend ist. Das Lebenswerk, das vom Arbeitskreis Kassáks über das fortschrittliche Bauhaus bis zur Ungarischen Akademie in Rom und Freundschaft mit dem Papst, bis zu den Salonausstellungen in Paris die großen geistigen Werkstätten des Jahrhunderts in Europa durchlief. Die Persönlichkeit, die Verbindungen, Filmrollen, Freundschaften und legendäre Lebensfreude Tots zog die ungarische Presse in seinen Bann. Leider berühren die Zeitgenossen mit ihren visuellen Kommentaren nur die Oberfläche des Themas ? liefern keine Andeutungen dazu, wie er sich auf die zeitgenössische ungarische Bildhauerei ausgewirkt hatte, was Erzsébet Schaár und Gyula Pauer Gyula von ihm gelernt hatten. So sagt die Ausstellung mehr über Methoden der Gehirnwäsche der stalinistischen Kulturpolitik als über den in seiner Bildhauertechnik und überzeugenden Kraft unerreichbaren Amerigo Tot.
Eszter Götz / Übersetzung: Birgit Torjai / Bearbeitung: Pester Lloyd
Noch bis 3. Januar im Museum Ludwig in Budapest
www.ludwigmuseum.hu