Der Katastrophengucker

Deutsch

Das Stück handelt von einem Autisten, der endlich Arbeit findet, aber an ihrer Sinnlosigkeit verzweifelt. Die schwermütige, aber von komischen Einlagen dominierte Aufführung entfacht die unterschwellige Dramatik moderner Arbeits- und Lebensverhältnisse ohne aufzurütteln und entlarvt sie durch die unverfälscht naive Linse der autistischen Hauptfigur.
 

Am Samstag, dem 28. November, ging das Budapester Contemporary Drama Festival zu Ende. Sieben ungarische und vier internationale Theaterproduktionen wurden von dem zum 8. mal stattfindenden Festival eingeladen, um der Hauptstadt und seinen internationalen Gästen die innovativen Tendenzen der ungarischen und osteuropäischen Theaterszene zu präsentieren. Dazu lud man europäische Fachleute ein, investierte in Simultanübersetzungen in Englisch und veranstaltete ?critical hours? nach den Stücken.

 
Eines dieser Stücke ist ?A Gézagyerek? - der Géza-junge ? das im Studio des Budapester Újszinház aufgeführt wird, einem Rundtheater, das die Zuschauer in vier Reihen um die kleine Bühne sitzen lässt. In dem Stück, das 7 Preise auf ungarischen Theaterfestivals eingeheimst hat, geht es um Géza, einen 25-jährigen Autisten, der tagein, tagaus bei seiner Mutter auf der Küchenbank sitzt und die schwarz-weiß-gemusterten Kacheln studiert, bis er in der großen Mine plötzlich unverhofft Arbeit findet. Doch der Stolz über die neue Arbeit wird bald von einem Gefühl der Nutzlosigkeit abgelöst, das auch die Mitmenschen Gézas trotz größter Anstrengungen nicht abwenden können.
 
Schleppende Schritte in einer farblosen Welt
 
Die Welt von Géza (dem ?Stonewatcher?, wie es in der englischen Übersetzung heißt), in die uns der Autor János Háy und der Regisseur László Bérczes entführen, ist eine schlichte, kalte Welt. Da ist das Lebensumfeld Gézas, die verwitwete Mutter und die Nachbarn mit ihren Hunden. Da ist die Mine, Mittelpunkt des örtlichen Lebens, mit den Arbeitern Lewie und Stevie, dem Vorarbeiter Les und dem Busfahrer Charlie ? der Besitzer der Mine, von allen nur ?der Deutsche? genannt, taucht, obwohl diese Drohung ständig in der Luft liegt, nie auf. Und da ist die Taverne, wo sich nach Feierabend die Arbeiter und die erwerbslosen Alkoholiker Sappy und Béla herumtreiben. Die Handlung, die sich im steten Rhythmus der immergleichen, ein- und ausklingenden Tage abspielt, wird getragen vom schwermütigen Akkordeonspiel der phlegmatischen Sappy, und so ist man schnell Zeuge eines in Tage, ja Jahre hinein ausgedehnten Stillstandes, in dem die Suche nach Abwechslung lange schon hat aufgegeben werden müssen.
 

Den Höhepunkt dieser Stimmung markiert, unmittelbar vor der Pause, ein zur leiernden Musik vorgetragener Tanz, der mehr ein blindes Taumeln der sich kaum aufrecht halten könnenden Béla und Sappy ist. Lewie und Stevie, ebenso betrunken, umrunden die beiden in ebenso haltlosem, sinn- und zielentleertem Gang, bis die Dunkelheit nichts als die schleppenden Schritte und das stumme Glimmen der Zigaretten zurücklässt.

Géza (äußerst glaubwürdig gespielt von Ervin Pálfi), dessen Denkweise so unvorhersehbar anders funktioniert, ist in dieser Dunkelheit genau der Farbfleck, nach dem sich alle sehnen. Noch die kleinsten, selbstverständlichsten Angelegenheiten macht er durch sein naives Fragen zum Ereignis. So wird er schnell in das Herz seiner Mitmenschen geschlossen, ?weil er alle Menschen liebt?, wie immer wieder gesagt wird, und weil er sie befreit aus der Hölle des Immergleichen. So wird Géza mehr und mehr aber auch zum Objekt der zwischenmenschlichen Bedürfnisse der anderen, die ihrem eigenen Stillstand entkommen möchten.
 
Sand im Getriebe
 
Doch Géza erweist sich als nicht so dankbar und nicht so formbar, wie es offensichtlich alle von ihm erwarten. Der gönnerischen Freude, die seine Aufnahme in das soziale Gefüge bei allen erzeugt, steht bald das Staunen darüber, dass er das Almosen nicht fraglos annimmt, gegenüber. Ein erster Schock für Géza ist die Erfahrung, dass er nie etwas machen darf. Eingestellt, um von einem Hochsitz aus die Mine im Auge zu behalten und im Notfall die Maschinen auszustellen, wird er langsam der Tatsache gewahr, dass er in der restlichen Zeit ? und das ist in diesem Falle immer ? gar nichts zu tun hat. ?Das ist keine Arbeit, von morgens bis abends aufpassen. Das ist keine Arbeit, weil ich nichts mache?, klagt er sein Leid zuerst seiner Mutter ? die ihn erfolglos damit zu trösten versucht, dass die anderen immer das Gleiche machen. Ein zweiter Schock ereignet sich, als Lewie beiläufig Gezas Tätigkeit mit der eines Wachhundes vergleicht. Denn zu Gézas Gewohnheiten gehört es, morgens die Hunde der Nachbarn zu verspotten, die einzigen, die auf der Leiter des sozialen Ansehens weiter unten stehen als er. Aus den Wolken einer Gottheit, als die ihm sein hocherhobener Posten bisher vorgekommen war - ?Ich bin wie Gott, wie Jesus, wie St. Petrus. Ich bin der Kommandeur. Ich habe diesen Knopf hier in der Hand. Grün, Start, Rot, Stop. Rot, Grün, Rot, Grün...? - stürzt sein Status in das Gehege eines Hundes. Er verliert endgültig die Lust an seiner Arbeit, und alle Versuche, ihn zur Vernunft zu bringen, scheitern an der Wahrheit, die Géza nicht akzeptieren will: Dass alles, ob es einen Sinn hat oder nicht, nach dem Willen ?des Deutschen? geschieht. Denn der, so hat Géza inzwischen herausgefunden, hat ihn nur eingestellt, weil er die Versicherungskosten senken will.
 
Die Dümmsten werden die Klügsten sein
 
So zeigt sich Háys Stück, das unter der Regie von Bérczes mit unterschwelliger Melancholie, viel Humor und wenig Spektakel im Mittelpunkt des Zuschauerrunds inszeniert wird, auch als Kritik an den undurchschaubaren, jeder subjektiven Sinnhaftigkeit beraubten Befehlsketten der international verflochtenen Wirtschaftszwänge. Géza, der Idiot, erweist sich am Ende als der Klügste, weil er als einziger naiv genug ist, nach dem Sinn des Ganzen zu fragen. Doch die Belohnung bleibt aus und Géza muss sich am Ende wie am Anfang unter dem einsamen Sternenzelt betten, mit der hilflosen Frage auf den Lippen, ob wenigstens Gott eine Katastrophe verhindern würde. So hält Géza, der Stonewatcher, der nicht nur Steine beobachtet, mit seinen Fragen nach dem Warum einer Welt den Spiegel vor, in der wie in der Mine nichts mehr passiert und alle so sehr ihren eigenen Willen vergessebn, dass sie nur noch warten, immerzu warten, und zwar letztlich nur auf eines: die Katastrophe.
 
Doch so sehr dies nach Becketts Warten auf Godot klingen mag, bleibt in diesem Stück der Abgrund der Leere eine Bordsteinkante. Nicht trist genug, um wirklich zu beklemmen, und nicht dramatisch genug, um aufzuwühlen, bleibt vom Stück am Ende vermutlich nicht mehr als der Abdruck einer kurzweiligen Heiterkeit und ein schwaches Gefühl von Ratlosigkeit hängen, auch wenn die subtile Dramatik der Handlung ausgezeichnet umgesetzt wurde.
 
Frederic Heine, Pester Lloyd
 
 
Titel: A Gézagyerek / Stonewatcher
Autor: Háy János
Regisseur: Bérczes László
Dramaturgin: Brestyánszki Boros Rozália
 
Besetzung: Pálfi Ervin, Vicei Natália, Kovács Frigyes, Szoke Attila, Ralbovszki Csaba, G. Erdélyi Hermina, Pesitz Mónika, Csernik Árpád, Mess Attila, Szilágyi Nándor, Körmöczi Petronella